Die Herbststürme des Jahres 1872 waren ausserordentlich heftig. Schon im September blies der Sturm aus Nordost mit gewaltiger Kraft. Die Bäume bogen sich und das Obst wurde von den Bäumen gerissen. Die gewaltigen Wellen brachen auf die Küste und es deutete sich an, dass dieser Herbst ein sehr heftiger werden würde. Der September und auch der Oktober vergingen nicht minder heftig. Die Fischerei kam in dieser Zeit vollends zum erliegen, kam doch kein Boot bei diesem Wetter aus dem Hafen. Anfang November blies der Sturm immer noch heftig, doch aus südwestlicher Richtung. Dadurch wurde das Wasser der Ostsee in den Finnischen Meerbusen gedrückt und aus der Nordsee floss neues Wasser in die Ostsee. Wenn nun der Wind drehen und wieder aus Richtung Nordost blasen würde? Nicht auszudenken, wenn die aufgestauten Wasser-massen dann zurückkämen!
Gegen Morgen des 12. Novembers flaute der Sturm dann zunächst ab, aber nur, um kurz darauf wahrhaftig und umso heftiger aus Nordost zu blasen. In der Nacht vom 12. zum 13. November 1872 fegte dann eine gewaltige, nie da gewesene Sturmflut über die Küste und richtete verheerende Schäden an. Ganze Städte und Dörfer wurden überflutet, mehr als 2.800 Häuser wurden zerstört und 271 Menschen verloren ihr Leben in den tosenden Fluten.
Auch Poel traf die Flut mit voller Wucht. Aus einem zeitgenössischen Bericht erfahren wir einiges über die Geschehnisse und Dramatik, die sich an jenen Tagen auf Poel abspielten:
Der Fährdorfer Fischer Hans Post und seine Frau Marie (meine Ur-Urgroßeltern) erlebten den ganzen Schrecken der Sturmflut. Deren Anwesen war eine der drei im obigen Text erwähnten Fährdorfer Büdnereien, die durch die Flut stark beschädigt wurden. Hans´ und Maries erstes Kind Anna (auf dem Foto hinten stehend) war zum Zeitpunkt der Flut gerade acht Monate alt. Nach späterer Aussage ihrer Nichte überlebte sie die Flut nur deshalb, weil ihre Eltern sie kurzerhand in ein Butterfass steckten und sie so vor dem Ertrinken retteten. Die beschädigte und unbewohnbar gewordene Büdnerei wurde von der Familie nicht wieder aufgebaut, sondern an anderer Stelle in Fährdorf neu errichtet. Dieses Haus steht noch heute und ist das Geburtshaus meines Urgroßvaters, des späteren Fährdorfer Fischermeisters Wilhelm Post (auf dem Bild links mit Strohhut).
Seit 1872 gab es immer wieder sehr schwere Ostseesturmfluten, so in den Jahren 1904 mit 1,88 m, 1913 mit 1,89 m, im Januar 1954 mit 1,73 m, am 2. bis 4. November 1995 mit 1,68 m und am 21. Februar 2002 mit 1,65 m mittlerer Wasserhöhe über Normal Null. Heftige Sturmhochwasser gab es weiterhin 1904, 1913/14, 1957, 1968 und 1971 mit über 1,14 Meter über Normal Null. Die Ostseesturmflut 1872 war mit 2, 43 m über Normal Null die schwerste ihrer Art seit Beginn der regelmäßigen Aufzeichnung der Pegelstände. Übrigens: Eigentlich muss es Ostseesturmhochwasser heißen und nicht Ostseesturmflut, da es in der Ostsee keine Ebbe und Flut gibt und der Grund eines Ostseehochwassers immer ein Sturm oder Orkan ist.