Gerhard Eggers, Sohn des gleichnamigen letzten Besitzers von Weitendorf-Hof ließ mir seine Erinnerungen auf meine Nachfrage per E-Mail zukommen:
Mein Beitrag zu Ihrem Projekt kann nur schmal ausfallen : Ich bin am 7. November 1939 (in Wismar) geboren und habe deshalb naturgemäß nur wenige und leider unzusammenhängende Erinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit. Jedoch gibt es andererseits Vorkommnisse, die sich mir vielleicht umso mehr eingeprägt haben - wenngleich weniger als Vorgänge denn als Bild.
"Enteignung" bedeutete für die betroffenen Gutsbesitzer unmittelbar, dass sie mit ihren Familien kurzfristig ihr Gut zu verlassen hatten. Es war erlaubt, persönliche Habe mitzunehmen. Die genauen Bestimmungen hierzu kenne ich nicht. Nach den Erzählungen, an die ich mich erinnere, wurde eine Frist von 24 Stunden gesetzt, und es durfte ein landwirtschaftlicher Anhänger mit Hab und Gut beladen mitgenommen werden. Jedenfalls wurde in großer Eile - aber doch umsichtig, wie sich im Nachhinein zeigte - ein sogenannter Gummiwagen hoch beladen. Obendrauf lag ein großer, grauer Wollteppich. Mein Vater war in Kriegsgefangenschaft, so dass alle Verantwortung für unser Wie und Wohin bei meiner Mutter lag. Sie wurde dabei von Mitarbeitern des Gutes (vor allem wohl dem sog. Statthalter Höppner) tatkräftig unterstützt, bis zur Vertreibung in Angelegenheiten der Wirtschaftsführung wohl besonders von Herrn Haland. Die auf dem Wagen befindliche "bewegliche Habe" , vor allem Möbel, wurde nach Wismar geschafft und dort irgendwo untergebracht. Meine Mutter und ich fanden Zuflucht im Hause meiner Großmutter, Anny Eggers geb. Flügger, in Wismar, Burgwall 19(?). Dort wohnte auch schon meine Tante (ebenfalls) Anny Messerschmidt, geb. Eggers, mit ihrem kleinen Sohn Eckhard. Ihr Mann, Helmut, war Ingenieur und hatte wohl ausgerechnet in Verbindung mit der Flugzeugfertigung gearbeitet. Eines Morgens fuhr eine Art Lieferwagen vor, und mein Onkel Helmut wurde "abgeholt", wie man es bezeichnete. Das konnte ich nun gar nicht begreifen, aber ich erinnere mich doch daran, dass die Erwachsenen bei aller Sorge nicht gerade überrascht waren. Mein Onkel ist bald darauf in einem Haftlager umgekommen. Im Hause Burgwall 19 hatten russische Soldaten Quartier bezogen. Sie waren oft laut, es wurde getrunken und gesungen. Ich musste zuweilen bei diesen "Festen" dabeisein - vermutlich nicht auf Wunsch der Soldaten, sondern für Mutter und Tante wegen der Zudringlichkeiten der "Befreier". Einer der Soldaten hat mir einmal einen Ledergürtel geschenkt. Der Gürtel passte mir, also nicht ihm. Ich habe das "Geschenk" gleichwohl lange Zeit sehr geschätzt. Aus dem Verhalten der russischen Soldaten (die wilden Radfahrer und die Uhrenräuber einmal außer Acht gelassen) in der Stadt ist mir in lebhafter Erinnerung, wie sie gelegentlich in mehr oder weniger ungeordnetem Zug durch die Straßen marschierten und dabei oft das "Leberwurstlied" sangen oder grölten. Das Lied hatte sicher nichts mit Leberwürsten zu tun, es hatte aber einen Refrain, der - für deutsche Kinderohren - das Wort "Leberwurst" enthielt. Darüber konnten wir Kinder uns recht amüsieren. Im übrigen flößten die russischen Soldaten auch mir als Kind Furcht ein - nicht eigentlich aus eigenem Wissen sondern wegen des Verhaltens und der offenkundigen Angst der Erwachsenen. Solche Angst überträgt sich ja auf ein Kind : Im Frühjahr 1945, noch vor dem 8. Mai, sollte ich meine Mutter in ein Lazarett in Wismar begleiten, um dort wohl einen verwundeten Bekannten zu besuchen. Ich hörte, dass im gleichen Raum auch ein englischer Soldat untergebracht sei und wollte deshalb nicht mitkommen. Ich hatte große Angst vor dem Engländer, weil ich ihn mir als ein löwenartiges Tier vorstellte.
Für die vertriebenen Gutsbesitzer-Familien gab es Beschränkungen hinsichtlich der Dauer und des Ortes ihres Aufenthaltes. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Meine Mutter schloss sich mit mir einer Gruppe an, die des Nachts über die sogenannte grüne Grenze ins benachbarte Schleswig-Holstein fliehen wollte. (Dieses möchte ich als "Flucht" bezeichnen, weil wir in unserer Heimat ja nicht mehr gelitten waren, aber das russische Besatzungsgebiet doch nicht verlassen durften. Die Ausweisung aus dem Gut war dagegen eine Vertreibung.) Über die näheren Umstände der Flucht weiß ich nur, dass die Gruppe aus vielleicht einem Dutzend Personen bestand. Wir sammelten uns auf einem Hof im Dorf Lockwisch - ein Name, der mir sonst nichts bedeuten kann, den ich aber wie einen Inbegriff von Verlockung, Abenteuer und Angst verinnerlicht habe. Oberstes Gebot war wohl Stille, alles vollzog sich geheimnisvoll, verschwörerisch, ruhig. Irgendwo in einem waldigen Gelände lagerte und wartete die Gruppe später auf ihren "Führer", der sie über die Grenze führen würde. An das stille, angstvolle Warten entsinne ich mich, aber weder an einen Führer (der muss ja gekommen sein), noch an eine Grenze, noch an unsere erste Unterkunft jenseits der Grenze. In umgekehrter Richtung habe ich diese Grenze das erste Mal Ende der 70er Jahre gemeinsam mit meiner Frau und unseren beiden Söhnen überschritten. Wir galten, da Einwohner des Landkreises Hannover, als Bewohner des grenznahen Gebietes und durften einen Tagesbesuch in der DDR (unter Zahlung eines Mindestumtausch-Geldes und Erduldung der lächerlich-schikanösen Kontrollen) beantragen. Mein Poel habe ich nicht wiedergefunden, eine Wehmut gleichwohl - oder erst recht ?