Gertrud Lembke, geb. 1908, Tochter des Poeler Pflanzenzüchters Prof. Dr. Hans Lembke, schrieb ihre Erinnerungen an das Kriegsende nieder. Mit Erlaubnis der Familie darf ich auch ihren Bericht hier einstellen:
Di. 1. Mai 1945.
In der Frühe fahren Elisabeth Esser und Ruth Esser mit dem Rade ab - E. hatte mir am 9. März bei Karstens Geburt Hebammendienste erwiesen. Auch Dahms waren geflüchtet, er als Ortsgruppenleiter wäre akut gefährdet gewesen. Vati und Leni fahren nach Wismar, zur Zuckerfabrik, dessen Leiter Meyer sich mit Familie abgesetzt hatte, und zum Einkaufen, was freilich der Warteschlangen wegen nicht gelang. Beide erschüttert über die Auflösung der militärischen Ordnung bei den durchfahrenden Soldaten und das Elend der die Straßen verstopfenden Treckzüge, die alle nach Westen strebten. Nachmittags treffen Lite Hildebrandt und ihre beiden Töchter Almut und Irmtrud mit dem Rad ein, abends Gunther Hildebrandt, der meldet, die Russen seien in Doberan eingetroffen.
Mi. 2. Mai.
Von Mecklenburg aus rollen die ersten englischen Panzer in Wismar ein. Tula hat Dahmen mit ihren beiden kleinen Jungen im Kinderwagen verlassen, ein Militärwagen nimmt sie nach Wismar mit; unmittelbar hinter ihnen rollen die russischen Panzer von Warin her heran. Sie übernachtet in der Laubenkolonie "Süße Lotte" und am Morgen nimmt ein Milchwagen sie und den Kinderwagen bis Strömkendorf mit. Von da geht es zu Fuß über die Brücke und Fahrdorf nach Malchow.
Die Nachricht, daß die Engländer Wismar besetzt haben, beruhigt uns etwas und wir treffen keine speziellen Vorkehrungen mehr, zumal am 3. Mai einige kanadische Spähwagen über die Insel gerollt sind. Aber am 4. Mai früh fährt ein Militärwagen auf den Hof, nicht aber Kanadier, sondern Russen und steigen aus. Sie verlangen Waffen, aber vor allem Uhren, Ringe und Schnaps. Sie dringen sofort in den Weinkeller ein und leeren ihn vollständig, finden freilich kaum harte Sachen, nur Weine. Zum Glück lassen sie sich nicht auf dem Hof häuslich nieder, sondern lassen sich die Kisten auf den Wagen laden. Aus der Garage holen sie den Hanomag und lassen ein kaputtes Motorrad zurück. Ihr Standquartier ist in Strömkendorf.
Die Kinder spielen gerade im Hintergarten. Da niemand weiß, was die nächsten Stunden bringen, führen wir sie durch das Tor in das angrenzende Rapsfeld, das gerade beim Schossen ist. Auf vielen Decken und Kissen verbringen sie den Tag im Freien, ein Glück, daß die Sonne warm scheint. Sie finden es herrlich, so zu kampieren und aus dem Korb ihre Butterbrote zu verspeisen. Für die Nacht wollen wir sie ins Dorf zu den Leuten geben: Liesbeth Pierstorf hütet Hobe und Krischan, Lite Hildebrandt mit ihren Töchtern wohnt bei Siggels, die Zwillinge und Anne sind bei Albert Pierstorf, Frau Foerstel und ihre Kinder bei Korffs.
Die ganze jüngere Frauenwelt ist in Panik; sobald sich ein Russe sehen lässt, stürzen alle in den Raps, trotz der Nässe von Tau und vom Regen. Das notdürftigste Kochen besorgen Frau Moser, Fräulein Wessener und Oma Schick. Im Hause geht es jetzt wild her. Die erste Plünderungswelle hat eingesetzt; sie gilt vor allem den Herrensachen: Uhren, Ringen, Stiefeln und Schuhen. Der große Schrank unten und Vatis Schrank werden beide völlig geleert, so da kaum etwas bleibt von dem reichen Bestand von Vati, Hans und Adolf. Die Russen, bis an die Zähne bewaffnet, spazieren pfeifend durch alle Räume, reißen alle Schubladen heraus, durchwühlen Schränke, Truhen und Kästen. Im Plättkeller liegen Stöße von frischgewaschener Wasche, auch sie wird durchwühlt und dezimiert. Die Koffer, die Bekannte nach Malchow zur Aufbewahrung brachten, werden ausgeschüttet und das Wertvolle daraus geraubt. Die Unordnung ist unbeschreiblich, aber im Grunde wird von diesen Sachen nicht allzuviel weggenommen. Die Hauptwut der Polen richtet sich gegen das Eigentum von Dahms, ein Segen, daß sie fort sind. Was würden sie auszustehen haben.
Die Nacht verlauft verhältnismäßig ruhig. Ich selbst verbringe sie mit Karsten (1 ½ Monate alt) auf dem Schoß, im Zuwagen, der unterhalb des Gartens auf die Wiese gestellt ist. Es regnet, was vom Himmel herunter will, bald tropft es durchs Dach und es wird sehr ungemütlich. Beim ersten Morgengrauen wandere ich daher reumütig mit dem Kind auf dem Arm durch den Garten zur Hintertür und hinauf in mein Zimmer.
Hanna und Leni verbringen die Nacht damit, soviel Hab und Gut zu verstecken, wie möglich. Die große Truhe wird - mit Wasche gefüllt - im Komposthaufen eingegraben – es erweist sich, daß trotz des ungünstigen Wetters durch die Wärme des verrottenden Laubes die Wasche nicht verschimmelt ist, nur die Truhe sieht später schäbig aus.
Morgens treffen wieder Russen und Polen auf dem Hof ein, und die Plünderei geht weiter, aber die Arbeit des Versteckens auch. Wahrend auf dem Hof Moser mit den Russen parlamentiert und Vati im Hause Wache steht, leert Leni zusammen mit Herrn Labs und Herrn Hoffmann den Keller. Ich stecke ein gut Teil Wasche von Leni und mir ins Waschfaß – was naß ist, können die Polen nicht mitnehmen.
Es heißt, daß die Polen am Sonntag oder Montag trecken müssen, so sind sie ständig zwischen dem Dorf und dem Hof unterwegs, mit Säcken und Körben, mit Bettzeug und Möbeln. Im Dorf sitzen die Menschen verängstigt an den Fenstern und erzahlen sich Räubergeschichten: Auf dem Hof ist alles ausgeraubt, kein Bett, keine Wäsche mehr, Schinken, Schmalz und Wurst ist alles weggenommen. Die Unordnung ist in der Tat unbeschreiblich, aber es findet sich später doch noch vieles wieder an, und die Verluste sind erträglich. Sicher hilft es uns, daß die Polen gut behandelt worden sind, ebenso, daß die Dahms Wohnung ihnen einen Blitzableiter bietet, daß wir verhältnismäßig viele Manner im Haus haben, und daß wir keine Angst zeigen. Wir lassen alles unverschlossen, setzen ihrem Eindringen keinen Widerstand entgegen, lassen sie aber auch nicht aus den Augen. Jedem Eindringling haftet sich gleich ein Beobachter an die Fersen.
Ganz besonders geschickt sind Herr Moser und Fräulein Wesener in der Behandlung der Russen und Polen. Moser spielt den Vorarbeiter. Mit seinem lahmen Bein humpelt er unentwegt mit einer Schiebkarre über den Hof, läBt sich von jedem Russen erst einmal etwas Machorka für seine Pfeife geben und spielt einen halb treuherzigen, halb troddeligen Menschen, der nicht versteht, was sie wollen, obwohl er mit großem Eifer versucht, sie zufriedenzustellen.
Und Tantchen mit ihrem weißen Kittel, ihrem weißen Haar und mit einem russischen Wörterbuch in der Hand bestrickt die Russen mit ihrer mütterlich wohlwollendsten Liebenswürdigkeit. Bewundernswürdig ist auch Vatis Ruhe und Selbstbeherrschung, die oft schlimm auf die Probe gestellt wird. Am meisten Angst hat Herr Engel. Sobald sich ein Russe sehen läßt, schlägt er sich seitwärts in die Büsche. Was man ihm wohl tun soll!
Viel gefährlicher ist es da schon für die jungen Frauen, und hier entspricht die Wirklichkeit weitgehend der Nazipropaganda. Dabei erweist es sich aber, daß die Dorfleute schlimmer dran sind als wir auf dem Hof. Schon Sonnabend abend erscheint ein Wagen mit russischen Offizieren im Dorf auf Mädchenjagd. Sie nehmen Fräulein Lords und einige andere Mädels mit nach Strömckendorf. Tula entgeht ihnen mit Mühe, indem sie zu der alten Mutter Pierstorf ins Bett kriecht und dann die ganze Nacht im Raps verbringt. Die Schnitterkaserne ist der Hauptanziehungspunkt, die Polenmädchen haben nichts zu lachen.
Leni und ich verbringen mehrere Nächte im Kuhstall, während Hanna sich unter Rudolfs Schutz im Haus sicher genug fühlte. Von Rudolf geführt, schlichen wir uns über die Dungbucht an die hinterste Tür, die nur angelehnt war. In der Kälberbucht hatte der Schweizer Schreiber tüchtig Stroh aufgeschüttet. Bei dem schwachen Schein einer Stallaterne sahen wir dunkle Erhebungen aus dem Stroh auf der einen Seite, das waren Frau Soltmann und ihre 8 Kinder und Frau Schreiber, die auch hier Zuflucht gesucht hatten. Auf der anderen Seite fanden wir mit Decken und Mänteln ein warmes Lager im Stroh. Ich hätte nicht gedacht, daß es sich im Kuhstall so behaglich schlafen ließe. Der warme Brodem der Tiere ließ einen nicht frieren, die Bewegungen des Viehes übertönte das Rascheln des Strohs, das uns verraten konnte. Wir schliefen also tief und fest bis zum frühen Morgen, bis uns Schreiber weckte und herausließ. Noch zwei Nächte verbrachten wir im Kuhstall und im Heu der Scheune, dann wurde uns das Ausrücken leid, und wir suchten im Hause ein Quartier.
Es gab noch mehr seltsame Nachtquartiere in dieser Zeit für die Frauen. Im Dorf war es der Heuboden über den Stallungen. Frau Klasen im Fährdorfer Fischerhaus erzählte, sie habe sich mit zwei anderen Frauen auf dem dunklen Rauchboden acht Tage lang versteckt gehalten. Es muß für sie besonders schlimm gewesen sein, da sie gerade erst die Nachricht vom Tode ihres Mannes, des Malers Christian Klasen, erhalten hatte. Als sie dann zum 1. Mal in ihrem schwarzen Kittel vor der Tür saß, um Luft zu schöpfen, fuhr gerade wieder ein Russenauto vor. Sie faßte sich schnell und mimte die Geistesgestörte. Mit starrem Blick schaute sie auf ihre Hand, auf den rieselnden Sand, den ihr Töchterchen ihr spielend in die Finger schüttet. Als die Mutter die Männer aufklart, die Frau sei irre, kehren die Herren auf der Stelle um und fahren davon.
Für uns auf dem Hof waren die Kinder unser bester Schutz. Die Russen sind kinderlieb; ein Sandhaufen, auf dem 12 kleine Kinder spielen, entwaffnet sie und ihre Wut rasch. Die Kinder sind auch nicht ängstlich, bis auf Irmtrud, die sich stets sehr aufregt. Hobbi ist sogar besonders gut Freund mit ihnen. Er läuft ihnen strahlend entgegen - offenbar erinnert die Uniform ihn an seinen Vater – und sie haben ihren Spaß mit ihm; sie lassen ihn auf den Schultern reiten, haften ihre Orden an seine kleine Schürze und setzen ihm ihre Soldatenmütze auf.
Doch wir erlebten auch einige unmittelbar bedrohliche Situationen, wenn die Russen regelrecht auf Frauenjagd gingen. Die eine war ziemlich am Anfang. Am frühen Abend fuhr ein Auto mit mehreren russischen Offizieren und Soldaten vor, die zu essen verlangten. Sie verspeisten eine Menge Eier und begannen dann, einen der Manner nach dem anderen nach drüben ins Inspektorhaus zu schicken und sie dort festzuhalten. Die Offiziere kamen dann durch den Garten, schlugen die Scheiben der Garten- und Saaltür ein, forderten Vati als letzten Mann auf, zum Inspektorhaus zu gehen. Die alten Damen wurden im Wohnzimmer festgehalten und mit MP bewacht. Die Offiziere aber begaben sich nach oben, um galante Abenteuer zu suchen. Leni und Tula hatten sich versteckt, es blieben nur Hanna und ich übrig, die beim Schein einer Kerze in meinem Zimmer bei Anne und Karsten saß. Ich war entschlossen, mich passiv, nicht aggressiv zu wehren, das aber bis zum äußersten. Wenn es zu brutalen Gewaltanwendungen kommt, ist man ja doch unterlegen. Was einem bleibt, ist nur Mut und geistige Überlegenheit. Er begann zunächst mit Einschüchterung, richtete die Maschinenpistole auf mich und drohte zu schießen. Damit hatte er nun gar keinen Erfolg, ich lächelte und sagte, "Schieß nur, das ist sicher der sanfteste Tod, der einem heutzutage beschieden sein kann". Als das nichts fruchtete, steckte er sie wieder weg und drängte mich mit Gewalt von der Wiege weg und in Vatis Zimmer herüber. Dort drückte er mich auf das Bett nieder und versuchte, mir Gewalt anzutun. Ich hatte aber die Beine verschränkt und hielt sie krampfhaft zusammen. Eine wirkliche Furcht hatte ich auch in dieser Situation nicht, ja, es trat mir als etwas fast Grotesk-Komisches vor Augen, ausgerechnet in unserem soliden Hause auf Vatis Bett unter Thorwandsens “Segnendem Christus" eine solche Szene zu erleben. Ich begann zu parlamentieren. Wie viel er davon verstand, weiß ich nicht, vielleicht wirkte das Wort “Propaganda”, als ich sagte, wir hätten immer geglaubt, die Berichte über die russischen Vergewaltigungen seien nur Propaganda, nun sähe ich ja, daß sie stimmten. Dann fiel mir mein Trauring ein, und ich bot ihm dem Burschen als Auslosung an. Das gab den Ausschlag, und Geräusche unten im Haus mögen auch dazu beigetragen haben, daß er von mir abließ.
Hanna hatte kurz darauf, eine ähnliche Attacke zu überstehen. Sie kriegte aber im Gegensatz zu mir Puffe und Schläge, aber auch ihr gelang es, sich ihrer zu erwehren. Seelisch war die Lage für die eingeschlossenen Männer wohl noch schlimmer durch die Ungewißheit, was im Hause vorging.
Auf den anderen Höfen ist es meist viel schlimmer zugegangen. In Timmendorf müssen alle Höfe binnen kürzester Frist geräumt werden, Russen ziehen ein und verderben alles. In den Häusern bleibt kaum ein Möbelstück, die Polen räumen das Letzte aus. Bei Schulzens in Fahrdorf sind zur gleichen Zeit Russen und Kanadier. Die verlangen zu essen und zu trinken, der Wein macht lustig, aber auch aggressiv: sie beginnen zu schießen, in die Lampen und Bilder, in die Schränke und die Fenster. Die Polen vollenden durch Plündern das Werk der Zerstörung; weg ist alles, Leinen, alle Herrensachen. Bei Sievers ist auch alles geplündert und Frau Sievert ist vergewaltigt worden. Sie war ganz verstört, als sie in Malchow war. Besonders schrecklich sind die Schicksale, die durch Selbstmord-Versuche verursacht worden sind. Steinhagen, Kaltenhof, hat zwei Söhne im Krieg verloren. Die Schwiegertochter mußte vom Hof herunter und machte in der Panik der Russenzeit mit anderen Frauen den Versuch, sich das Leben zu nehmen. Sie erschießt erst den zweijährigen Sohn und gibt drei Schüsse auf sich selbst ab, die aber nicht tödlich sind. Sie lebt nun als Krüppel und mit dem Bewußtsein, ihren Sohn selbst umgebracht zu haben. Oder die Tochter von Thormann, Groß-Stieten, die sich und ihren 6 Kindern die Pulsadern öffnet. Sie wurden vorzeitig gerettet, aber die Sehnen sind zerschnitten, und sie alle behalten gelähmte Hände. Oder die Flüchtlingsfrauen in Kirchdorf, die aus solchen Psychosen heraus beschließen, in den Tod zu gehen. Sie fassen sich alle an die Hand, die Kinder zwischen sich und gehen in den Kirchsee hinein. Die Kinder ertrinken, die Mütter werden durch Boote gerettet. Jetzt, judiziert die Standesbeamtin, was sie im Register angeben soll; die Mütter wollen es als Selbstmord der Kinder angegeben haben, aber das ist es nun doch wirklich nicht. Aber Totschlag oder Mord gehört vor das Gericht.
Poel war in den folgenden Monaten ganz vom Festland abgeschnitten. An der Fährdorfer Brücke standen russische Posten, die niemanden durchließen. Wir waren ja in unmittelbarem Grenzgebiet zwischen Ost und West. Da es keinen Strom gab (bis 2. August), versagte auch das Radio und so gab es ständig wechselnde Gerüchte: die Russen ziehen ab und die Engländer kommen - nein, die Russen bleiben und die Engländer ziehen ab.
Hin und wieder kamen Nachrichten aus Schleswig-Holstein über See. Poeler Fischer, die mit ihren Booten in den Westen geflohen waren, brachten sie ihren Golwitzer Berufsgenossen mit. So kam am 14. Juli eine Karte aus Itzehoe an Tula. Daß Walter nicht, wir fürchteten, in russische Hände gefallen sei, sondern sich in einem englischen Gefangenenlager bei Heide wäre. Später haben die Fischer auch Leni und mich heimlich mit nach Lübeck genommen, als wir 1946 unsere Männer in Ulenburg besuchen wollten.
Am 11. Juli machen Tula und Lite sich mit einem Passierschein vom Kommandanten auf nach Rostock bzw. Doberan, um nach den Eltern und den Wohnungen zu sehen. Die Kinder lassen sie in Malchow zurück. Am 22. Juli kommen sie zurück: sie bringen schlimme Nachrichten über das Flüchtlingselend und die mangelnde Ernährung in der Stadt. Vater ist wochenlang im Untersuchungsgefängnis gewesen – er hatte im letzten Jahr dienstverpflichtet im Baubüro von Hannes Peter mit den polnischen Zwangsarbeitern zu tun gehabt. Er ist jetzt als Stellvertreter von Schwankolt in Kritzmow, da dieser ins Zuchthaus von Neubrandenburg gebracht ist – wo er übrigens starb. Mutter hat tapfer und mit Erfolg die Wohnungen verteidigt und Tulas Sachen gehütet. Ende Juli kehrt Tula mit ihren beiden Jungen daher nach Rostock in die Johann-Albrecht-Straße zurück, ebenso Lite mit Almut und Irmtrud nach Doberan. Bis Neubukow bringt ein Malchower Wagen sie noch mit ihrem Gepäck und Verpflegung, dann geht es mit der bahn weiter.
Im August erhielt ich die ersten Nachrichten über die Verhältnisse an der Rostocker Universität. Sie klangen ganz günstig. Die allermeisten Professoren seien durch die Russen in ihrem Lehramt bestätigt, auch Teuchert sei weiterhin im Amt. Deswegen schrieb ich an Teuchert, ob es für Walter Aussichten für eine Habilitation gäbe, was er nach einiger Zeit positiv beantwortete.
Anfang August erkrankt Hanna schwer. Sie hatte bei einem Gewitter mit starkem Regen eine Pute mit ihren Küken in Sicherheit gebracht und war dabei völlig durchnässt und unterkühlt. Die anfängliche Bronchitis verschlimmert sich schnell zu einer Lungenentzündung. Frau Dr. Rüter, die Poeler Ärztin kommt, so oft sie kann, aber sie hat keine Medikamente, die letzte Spritze, die sie überhaupt noch hatte, hat sie Hanna gegeben, sonst konnten wir nur alte Hausmittel wie Wadenwickel und Umschläge anwenden. Nach nur einer Woche, am 16. August, stirbt sie, wahrscheinlich hatten die Strapazen der Flucht ihr Herz zu sehr angegriffen.
Bei der Beerdigung in Kirchdorf gegenüber der alten Familiengrabstelle bemerkt Leni auf dem Kopf der vor ihr stehenden Eva, daß diese Läuse hat. So wird am nächsten Tage eine Untersuchungsaktion gestartet und es erweist sich, daß die älteren Kinder, die in Kirchdorf zur Schule gehen, sich mit Läusen angesteckt haben. Lite Hildebrandt unternimmt es, mit Hilfe von Petroleum und einem Staubkamm in der Waschküche bei Eva, Almut und Irmtrud und auch wohl den andern Kindern die Haare von Läusen und Nissen zu säubern. Vater Rudolf aber entschließt sich zu einer Radikalkur, er schneidet Eva ihre schönen langen Zöpfe ab. Das ist dieser zunächst recht schmerzlich, aber erweist sich, daß binnen Kurzem sich ihre Haare zu kräuseln beginnen, und sie nun einen richtigen blonden Lockenkopf bekommt.
Nach Hannas Tode übernahm Oma Schick mehr noch als bisher die Aufsicht über die Kinderschar. Ich sehe sie noch, wie sie durch den Garten wandelt, das Strickzeug in dem Händen, das Knäuel in der Schürzentasche. Da Wolle fehlte, mußten die Kunststoff-Fäden der Zuckersäcke sie ersetzen. Annemarie erinnert sich, da die Kinder dazu herangezogen wurden, das Gespinst der Säcke aufzureppeln. Die Kunststofffäden verstrickte die Großmutter dann zu Pullovern und Kinderstrümpfchen, die freilich nicht sehr beliebt waren, da sie so kratzig waren. Auch das Stopfen der vielen Kinderstrümpfe war Omas Metier. Um Stopfgarn zu gewinnen, reppelte sie alte Damenstrumpfe auf. Da diese hinten eine Naht hatten, waren die Garnenden immer sehr kurz, und es war sehr mühsam, die Löcher zu schließen, da stets von Neuem eingefädelt werden mußte. Oma war sehr unerschrocken den Russen gegenüber und sie scheute sich auch nicht, Soldaten aus den Erdbeerbeeten zu vertreiben, ein Vorgehen das Vati als reichlich riskant ansah und nicht gerne sah.
Bei den größeren Jungen hat Uli Schmidt oft gute Erziehungsarbeit geleistet. Da er selbst so interessiert an der Tier- und Pflanzenwelt der Wiesen am Breitling war, hat er auch Hans und Wulff fürr Möwen und Kiebitze, Grasnelken und Sumpfdotterblumen interessiert.
Am 8. August kam der Bescheid, das Enteignungsgesetz sei auch für Mecklenburg in Kraft gesetzt. Alle Landwirtschaftsbetriebe über 100 ha, also auch Malchow, würden verstaatlicht. Alle PGs, HJ-Führer, BDM-Führerinnen usw. mußten sich melden. Für etwa zwei Wochen mußte auch Vati vom Hof, er zog sich nach Wismar in den ihm gehörigen Speicher am Spiegelberg zurück und kampierte im Büro. Dann erhielt er Bescheid, er dürfte auf seinen Hof zurückkehren, freilich als angestellter Betriebsführer, nicht als Eigentümer. Das war eine große Vergünstigung, die ihm sein Ruf als Saatzüchter eingebracht hatte - alle Nachbarbesitzer mußten ohne Hab und Gut die Höfe verlassen und flohen zumeist nach Westdeutschland.