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Zeitzeugen 

1933 - 1945 Zeitzeugen berichten

Prof. Dr. Werner Karsten, Sohn des damaligen Timmendorfer Lotsen Franz Karsten lebte einige Jahre - so auch bei Kriegsende - auf Poel. Er schrieb seine Erinnerungen als “Gedächtnisprotokoll” nieder. Der Titel seiner Niederschrift lautet: “Erinnerungen an die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage auf der Insel Poel, insbesondere in Timmendorf”. Prof. Karstens Erinerungen erschienen in mehreren Teilen in den Jahren 2000/2001 im “Poeler Inselblatt". Untenstehend seine Aufzeichnungen in zusammengeführter Version:

“Im April 1945 kehrte ich nach schwerer Verwundung auf Genesungsurlaub nach Timmendorf zurück. Es waren die Tage kurz vor dem verheerenden Luftminen-Angriff auf Wismar. Die Fahrt von Wismar nach Timmendorf machte ich mit einem größeren Fischkutter „Störtebeker“, der von der Kriegsmarine requiriert und wahrscheinlich in Timmendorf stationiert worden war. In der Wismarbucht lag ein deutscher Großsegler. Im Timmendorfer Hafen sah ich viele fremde Boote, u. a. Fischerboote samländer Fischer, die infolge des Vormarsches der Roten Armee die Ostseeküste entlang gefahren waren. Außerdem lag der aus Danzig nach Wismar gekommene Lotsendampfer „Habicht“ im Hafen. In den ersten Maitagen lief ein Dieselschlepper der Kriegsmarine in den Hafen ein, der später mit dem Namen „Hannibal“ im Lotsendienst eingesetzt wurde. Schließlich ist der Wismarer Dampfer „Seeadler“ zu nennen, der südlich vor dem Hafen ankerte. Über die wiederholten Tieffliegerangriffe auf diesen Dampfer und dessen Versenkung berichtet außer Saegebarth auch Gustav Wulf. Einen der Angriffe beobachtete ich vom heute noch vorhandenen Bootsschuppen neben dem alten Lotsenhaus aus; einige Geschosse gingen über unsere Köpfe hinweg und schlugen im Acker ein. Die Ehefrau eines der Besazungsmitglieder wurde tödlich verletzt und in Timmendorf an Land gebracht.  

Zur Flucht des Gauleiters Friedrich Hildebrandt: Ich kann das genaue Datum nicht nennen, an dem ich eine Gruppe bewaffneter SA-Männer beobachtete, die am Strande entlang vom Schwarzen Busch herkamen. Sie hielten sich eine Weile am Signalmast in Hafennähe auf. Offenbar sicherten sie eine zweite, kleinere Gruppe, ebenfalls in braunen Uniformen, die nach kurzer Zeit folgte - offensichtlich gehörte Friedrich Hildebrandt zu dieser Gruppe. Alle gingen an Bord des Zollkreuzers „Schwerin", der im Hafen bereit Iag.

Der Zollkreuzer unter Führung von Karl Hörig brachte sie nach Neustadt in Schleswig Holstein. Die Fahrt über die Lübecker Bucht erfolgte wegen der ständigen ständigen Bedrohung aus der Luft nicht mehr bei Tageslicht, sondern im Schutze der Dunkelheit. Kapitän Hörig kehrte allein, ohne Besatzung nach Timmendorf zurück. Seine Fahrten waren wegen der gelöschten Feuer und sicherlich ohne eigene Positionslampen gefährlich und eine seemännische Leistung. Diese Umstände der Flucht bestätigte mir die Tochter von Kapitän Hörig, die sich damals ebenfalls in Timmendorf befand. Somit besteht für mich kein Zweifel daran, dass der „Gauleiter und Reichsstatthalter" Friedrich Hildebrandt auf diese Weise die lnsel Poel verließ – wahrscheinlich das letzte, von den Alliierten noch nicht besetzte Teilgebiet Mecklenburgs. Sein letzter „Amtssitz" war demnach der Schwarze Busch gewesen.

Nach Gustav Wulf wollte Friedrich Hildebrandt ursprünglich mit dem Dampfer „SEEADLER“ fliehen. Der Dampfer hatte sich vor Timmendorf bereit zu halten. Dafür spricht auch, dass Lastwagen, angeblich beladen mit dem Besitz Hildebrandts, in Timmendorf bereitstanden. Meine Schwester erinnert sich an eine entsprechende Bemerkung unseres Vaters. Nach Beschuss und Versenkung des Dampfers musste dann der Zollkreuzer „SCHWERIN“ als Fluchtfahrzeug dienen.

Es ist bekannt, dass F. Hildebrandt später – 1947 in Dachau - zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Er hatte, angeblich empört über die vielen Toten in Mecklenburg infolge von Tieffliegerangriffen, vor allem auf Züge, US-Amerikanische Flieger erschießen lassen. Auch der Todes-schütze, ein Förster aus der Nähe von Schwerin, wurde mit ihm verurteilt und hingerichtet, wie ich aus absolut zuverlässiger Quelle weiß. Etwa gleichzeitig mit der Flucht Friedrich Hildebrandts - in jenen Tagen überstürzten sich die Ereignisse in dem sonst so ruhigen Timmendorf – kam eine Infanterie-Einheit nach einem anstrengenden Tagesmarsch aus Warnemünde. Es könnten etwa 200 Mann gewesen sein. Mit einigen der sehr jungen Soldaten (Rekruten) habe ich gesprochen. Der verantwortliche Offizier wandte sich an meinen Vater Franz Karsten als Leiter der Lotsenstation: Er verlangte, zu einem auf Reede liegenden Transporter übergesetzt zu werden - andernfalls müsse er mit seinen Soldaten zurück zur Poeler Brücke, um die InseI zu verteidigen. Wegen des häufigen Beschusses durch Tiefflieger war das Unternehmen des Übersetzens nicht ungefährlich. Nachts brannte kein Leuchtfeuer, eine weitere Gefahrenquelle. Für das Übersetzen stand der Station der Lotsendampfer „Habicht“ zur Verfügung.Die Besatzung hatte jedoch aus den genannten Gründen Bedenken. Schließlich konnte mein Vater aber die Besatzung davon überzeugen, dass man einen Kampf auf der Insel vermeiden und das Leben vieler Menschen retten müsse. Auch galt es, die jungen Soldaten vor der Gefangenschaft in der Sowjetunion zu bewahren. Viele Male musste der stets überladene Lotsendampfer fahren, bis alle Soldaten übergesetzt waren. Um den „HABICHT“ jeweils auf der Rückfahrt die Hafeneinfahrt anzuzeigen, hatte sich mein Vater mit einer Handlampe auf den Kopf der Nordmole gesetzt.

Wie allen Küstenstationen lag auch für die Lotsenstation in Timmendorf der Auftrag vor, im Falle einer drohenden feindlichen Besetzung die Feuer zu löschen und See- und Landmarken für die Orientierung der Schifffahrt möglichst zu beseitigen. Mein Vater beriet sich darüber mit Otto Gramkow - sie erkannten die Sinnlosigkeit dieses Auftrages in jenem Stadium des Krieges und machten gar nicht erst den Versuch, z. B. die Landbaken südlich von Timmendorf zu beseitigen. Kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee verließen mehrere Schiffe den Timmendorfer Hafen, z. B. Warnemünder Fischer, die nach Schleswig-Holstein fuhren sowie der Wismarer Schlepper WALFISCH, der zunächst die westliche Küste der Wismarbucht ansteuerte, nach Sichten von schwarzen US-Soldaten aber zunächst nach Timmendorf zurückkehrte und schließlich (nach Eintreffen der ersten Sowjetsoldaten) wieder nach Wismar dampfte.

Auch der Fischer Karl Hartig nebst Familie lief mit seinem Boot in Richtung Schleswig-Holstein aus, kam aber wegen der ständigen Bedrohungen aus der Luft bald nach Timmendorf zurück.

An das Eintreffen der ersten Rotarmisten in Timmendorf erinnere ich mich genau: Es waren zwei Soldaten mit einem Kutschwagen. Bald danach kam eine Batterie Artillerie. Sofort wurden Stellungen am südlichen Steilufer mit Laufgräben ausgebaut. Mit Erstaunen beobachteten wir, dass die Rotarmisten in Deckung gingen, sobald angloamerikanische Flieger erschienen – unter Verbündeten eine bemerkenswerte Verhaltensweise. Oft gingen Offiziere und Soldaten durch unsere Wohnung. Ein Offizier interessierte sich für unseren Bücherschrank, las halblaut ihm bekannte Titel und Autoren. z. B. Dostojewski (Raskolnikow) und Tolstoi. Andere Soldaten suchten allerdings nach Ferngläsern, Uhren und Eingemachtem. Gesucht wurde auch nach möglicherweise versteckten Waffen. So wurde im Keller unseres, des damals neuen Lotsenhauses, eine Kiste geöffnet, die u.a. Handfeuerwaffen enthielt. Wir befürchteten Schlimmes, als ein Offizier mit gezogener Pistole in unsere Küche kam und meinen Vater in den Keller mitnahm. Nach geraumer Zeit, die uns natürlich sehr lang erschien, kehrte mein Vater zurück. Er berichtete, dass unser Nachbar, der Lotse Vorbeck, Kisten für eine Frau v. Witzleben oder deren Begleiter untergestellt hätte - die Keller waren aus Luftschutzgründen miteinander verbunden. Es hieß, einer der Begleiter Frau v. Witzlebens sei (in Ostpreußen) beim Volkssturm gewesen und habe die Kisten mitgebracht. Ein polnisch sprechender Begleiter konnte diesen Sachverhalt zu unserem und unseres Nachbarn Glück klären. Für die Soldaten der Batterie wurden Quartiere benötigt. Das war vermutlich der Grund, weshalb wir - innerhalb von zwei Stunden - aus Timmendorf ausgewiesen wurden. Geräumt wurden alle Häuser am Strande, die Lotsenstation, das Zollhaus sowie Schröders und Hartigs Haus. Unsere Familie bestand aus sechs Personen: meine Eltern und meine Schwester, deren neun Monate alte Tochter, eine hochbetagte alte Tante meiner Mutter, die in Hamburg ausgebombt worden war, und ich. In großer Eile mussten wir einige wichtige Habseligkeiten, hauptsächlich Kleidung und Lebensmittel zusammenpacken und uns auf den Weg nach Kirchdorf machen. Ich konnte nur einen Rucksack tragen, weil ich als Beinamputierter mit Krücken gehen musste. Wir fanden Aufnahme auf dem Boden der Schildt-Schule. Der Klassenraum unter uns war voller Flüchtlinge. Oben hatte auch die Lehrerin Frau Balzer ihr Zimmer. Viele Kirchdorfer hatten damals Verwandte, Bekannte und andere Flüchtlinge aufgenommen. Die meisten Flüchtlinge waren, wie allgemein bekannt, in der Gaststätte Völter untergebracht.

Kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee hatten Boote der britischen Marine von Wismar kommend den Hafen angelaufen, wie uns ein Hamburger Reeder berichtete, der sich wegen der Angriffe auf Hamburg in Kirchdorf aufhielt. Er hatte sich bei den Engländern über die allgemeine Lage informiert. Die Engländer machten dunkle Andeutungen - wir würden schon noch sehen, was auf uns zukommen würde. Dieses Ereignis, wie auch jede der späteren Marschbewegungen der Sowjetsoldaten auf der Insel, weckten bei der Bevölkerung spekulative Hoffnungen, dass die Engländer, die ja Wismar besetzt hatten, auch nach Poel kommen würden. Bald nach unserer Ankunft in Kirchdorf traf ich zwei junge Frauen, die zuvor in Timmendorf in dem einsam am Nordweststrand gelegenen „Häußer´schen Haus“ ( Seenotrettungshaus) gewohnt hatten. Sie beklagten sich bitter, von unserer Ausweisung aus Timmendorf nicht rechtzeitig informiert worden zu sein.

Einmal wurden - durch Anschläge oder Ausrufer - alle wehrfähigen Männer bis zu 50 Jahren aufgefordert, sich zu einem bestimmten Termin auf dem Schulhof in Wangern einzufinden. Niemand kannte den Grund, viele Vermutungen wurden geäußert. Manche glaubten, sie bekämen einen Stempel in ihre Papiere. Was geschah? Zunächst erschien ein einzelner Soldat – einigen Poelern bereits flüchtig bekannt - und ließ alle antreten. Dann wurde eine Marschkolonne gebildet, die sich in Richtung Kirchdorf bewegte. Bis dahin waren fast alle guter Dinge. Doch Kirchdorf wurde in Richtung Fährdorf passiert und die Kolonne - inzwischen von weiteren Soldaten eskortiert - verließ die Insel. Irgendwo im Wald bei Farpen, wie man später erzählte, wurde übernachtet und es ging am Morgen weiter. Vereinzelt kamen Männer zurück, die fliehen konnten. Einige sollen nie wiedergekommen sein. Viele wurden wahrscheinlich in Lagern eingesperrt.

Gelegentlich gab es Übergriffe der Rotarmisten. Wenn nachts die Hunde in Kirchdorf anschlugen, wussten wir, dass wieder einige unterwegs waren. Der alte Lehrer Schildt wurde geschlagen, weil er auf die Frage nach versteckten Frauen keine befriedigende Antwort gab. Mein Vater wollte nach Absprache mit einem Kirchdorfer Fischer meine Schwester nach Wismar schicken. Doch das Boot wurde auf der Kirchsee beschossen und musste nach Kirchdorf zurückkehren.

Die Versorgung mit Lebensmitteln war schwierig. Meine Mutter teilte sich mit den Flüchtlingsfrauen aus dem Schulraum die Kochstelle, die sich im Gang unten im Schulgebäude befand. Eine der Flüchtlingsfrauen nahm sich in diesen Tagen durch Erhängen das Leben. In der letzten Zeit unseres Aufenthaltes in Kirchdorf wohnten wir in einem Zimmer der Gaststätte Groth. Bei unserer Rückkehr nach Timmendorf - das Datum kann ich nicht angeben – fanden wir die Wohnung in wüstem Zustand vor. Wegen des fehlenden elektrischen Stroms war die gesamte Wasserversorgungsanlage ausgefallen,die Toilette war in einem unbeschreiblichen Zustand. In den Kellerräumen schwebten bei jedem Luftzug die Daunen aus aufgeschlitzten Inletts in der Luft. Am 1. Juli 1945 lösten sowjetische Truppen die britische Besatzung in Wismar ab. Unmittelbar vor dem Abzug konnten wir beobachten, wie eine ,,Armada" von Schiffen aus der Wismarbucht in Richtung Lübeck oder Schleswig-Holstein auslief. Nachdem die Übergabe in Wismar erfolgt war, konnte ich mit einem Treck von Fuhrwerken nach Wismar fahren. Wir hatten mehrere Schlagbäume zu passieren, nicht nur an der Poeler Brücke. Ich benötigte einen Passierschein, den ich von einem Sergeanten bekam, der in einem Raum der Gaststätte Groth seines Amtes waltete. Angesichts meiner Krücken fragte er mich, an welcher Front ich verwundet worden wäre (,,Wo Front?"). Nachdem ich wahrheitsgemäß die baltischen Provinzen (Kurlandkessel) genannt hatte, freute er sich -,,Russki Kartusch karascho!" (russische Kartuschen gut).

Bei Strandgängen fand ich im Sommer 1945 mehrfach Leichen in KZ-Kleidung, offensichtlich ertrunkene Häftlinge von der „Cap Arcona". Der Häftlingstransporter wurde am 3. Mai 1945 durch einen Angriff britischer Jäger versenkt. Das Ehrenmal am Schwarzen Busch erinnert an diese Opfer. Der Schauspieler Erwin Geschonnek gehörte zu den Geretteten.

In Timmendorf war nach dem Abzug der Artillerie nur ein kleines Wachkommando von 12 bis 20 Mann geblieben. Sie wohnten in der Gaststätte Otto Schröders. Ihre Wachposten hatten sie zunächst auf dem äußeren Umgang des Leuchtturms; später wurde der im Beitrag von Joachirn Saegebarth erwähnte Beobachtungsstand auf dem Erkerausbau des alten Lotsenhauses genutzt. Mit den Soldaten dieses Wachkommandos gab es meines Wissens keine Probleme. Einer von ihnen, ein Turkmene, brachte uns sogar heimlich Brot. Er hatte auch ein altes Bild von mir in ,,Jungvolk-Uniform" gefunden; er übergab es mir, damit es nicht in falsche Hände käme!

Als er Reimar Bradhering - Reimars Vater war Versetzbootfahrer gewesen und die Familie lebte im alten Lotsenhaus - und mich einmal beim Schachspiel antraf, spielte er mehrfach mit uns. Später hielt er sich uns gegenüber mehr zurück, vermutlich hatte er wegen seines deutsch-freundlichen Verhaltens Schwierigkeiten bekommen. Heute vermute ich, dass an diesem Beispiel Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten innerhalb der Roten Armee deutlich wurden.

Im Dezember 1945 kam ein Kommando der sowjetischen Marine nach Timmendorf und quartierte sich im alten Lotsenhaus ein. Die dort lebenden Familien mussten die Wohnungen räumen. Auch Bradherings.

Schon seit den Spätsommertagen war mein Vater wieder im Lotsendienst tätig, die Schiffahrt begann wieder und nahm bald stark zu. Die Zahl der in Timmendorf ansässigen Lotsen vergrößerte sich. Bald kamen auch an den Timmendorfer Strand Flüchtlinge: wir nahmen eine Familie aus Ostpreußen auf.”

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